Auf dem Papier klingt es nach einer schlichten Modellpflege: Renault bringt mit Trafic, Estafette und Goelette drei neue Transporter an den Start. Doch unter dem Blech steckt weit mehr als eine neue Antriebsgeneration. Die Franzosen gehen mit diesen Modellen den radikalsten Technologiesprung seit Einführung des Elektroantriebs – und wagen den Bruch mit einer jahrzehntealten Entwicklungslogik.
Vom Fahrzeug zum Computer auf Rädern
Was hier vorgestellt wird, ist kein typischer Modellwechsel. Es geht nicht nur um Reichweite, Zuladung oder Ladezeiten – sondern um die komplette Neudefinition des Fahrzeugs. Die neuen Transporter sind die ersten Modelle, die auf der sogenannten SDV-Plattform (Software Defined Vehicle) von Ampere basieren. Und genau hier beginnt die eigentliche Revolution.
Bisher funktionierte die Entwicklung in der Nutzfahrzeugbranche nach einem klaren Muster: Ein Chassis, ein Antrieb – drumherum Elektronik, Assistenzsysteme und Ausstattungen, die alles zusammenhalten. Das war solide, aber limitiert. In einem herkömmlichen Transporter werkeln bis zu 80 Steuergeräte, jedes für sich eine kleine Insel mit eigenen Funktionen. Wer neue Features will, braucht Hardware. Wer Updates will, muss in die Werkstatt. Wer Pech hat, steht.
Ampere dreht den Spieß um
Mit der SDV-Plattform bricht Renault – oder besser gesagt Ampere, der konzerneigene Softwarezweig – diesen traditionellen Ansatz auf. Statt eines elektronischen Flickenteppichs gibt es nun ein zentrales Gehirn: Hochleistungsrechner mit einem vernetzten Betriebssystem, das von Ampere eigens entwickelt wurde – "CAR OS" nennt sich das Ganze.
Das erinnert weniger an klassische Nutzfahrzeuge als an moderne Rechenzentren: Sensoren sammeln permanent Daten aus Fahrwerk, Antrieb, Assistenzsystemen oder Konnektivität. Die Software wertet sie aus, entscheidet in Echtzeit – und lernt dabei stetig dazu. Neue Funktionen? Kommen über Nacht per Update. Fehleranalyse? Läuft remote. Bedienlogik? Dynamisch und anpassbar. Kurzum: Diese Fahrzeuge funktionieren mehr wie ein Smartphone – nur mit vier Rädern und drei Tonnen Nutzlast.
Maßgeschneidert statt von der Stange
Was bedeutet das für den Alltag? Für Handwerker, Lieferdienste oder Rettungsdienste eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Fahrzeuge lassen sich individuell auf Einsatzzwecke konfigurieren – nicht nur bei der Bestellung, sondern auch im Betrieb. Kühltransporter, Einsatzfahrzeuge oder Shuttlebusse erhalten spezifische Apps, die sich in das Fahrzeugbetriebssystem integrieren. So kann etwa ein Sanitäter direkt über das Borddisplay auf medizinische Anwendungen zugreifen, ein Lieferfahrer seine Route in Echtzeit anpassen – ohne externe Hardware, ohne zeitraubende Umwege.
Gleichzeitig wird die Fuhrparkverwaltung effizienter: Fahrprofile, Fahrzeugzustände und Wartungsbedarfe sind jederzeit abrufbar, zentral steuerbar und vor allem vorausschauend planbar. Predictive Maintenance ist kein Zukunftsversprechen mehr, sondern Teil der Standardausstattung.
Softwarepflege statt Wertverlust
Ein vielleicht unterschätzter Effekt betrifft den Werterhalt. Transporter, die über Jahre hinweg neue Funktionen erhalten, bleiben länger aktuell. Ihre digitale Infrastruktur altert nicht mit dem Blech. Renault spricht hier vom „Anti-Falten-Effekt“ – eine charmante Formulierung, die in der Logistikbranche bares Geld bedeuten kann. Denn ein Fahrzeug, das sich weiterentwickelt, muss nicht so schnell ersetzt werden. Gerade für Flottenbetreiber, bei denen Transporter oft sieben bis zehn Jahre im Einsatz sind, ist das ein echtes Argument.
Flexis – der neue Player im Hintergrund
Gebaut werden die neuen Transporter im französischen Werk Sandouville. Entwickelt wurden sie in Zusammenarbeit mit Flexis – einem noch jungen, aber strategisch extrem wichtigen Unternehmen. Flexis wurde 2024 als Joint Venture von Renault, der Volvo Group und dem Logistiker CMA CGM gegründet und versteht sich als europäischer Anbieter von Mobilitätslösungen mit klarem Fokus auf die Elektrifizierung des Lieferverkehrs. Das erklärte Ziel: eine emissionsarme, vernetzte Transportwelt auf Basis einer einheitlichen Softwareplattform. Der Produktionsstart der ersten rein von Flexis entwickelten Fahrzeuge ist für 2026 geplant.
Premiere in Birmingham
Wer die neue SDV-Generation live erleben will, hat am 29. April auf der Nutzfahrzeugmesse in Birmingham Gelegenheit dazu. Renault wird dort um 9:00 Uhr UTC die neuen Modelle offiziell vorstellen. Klar ist schon jetzt: Mit Trafic, Estafette und Goelette beginnt für Renault ein neues Kapitel – und für die Branche ein notwendiger Aufbruch in Richtung Digitalisierung.
Was bleibt, ist die Frage, wie schnell sich die neue Logik auf dem Markt durchsetzt. Denn eines ist sicher: Die Technik ist da, und damit auch die komplette Abhängigkeit des Menschen von Computern. Jetzt muss sie sich im Alltag beweisen – auf Baustellen, in Innenstädten, auf der letzten Meile.