Ein Beitrag von Dr. Andreas Gorbach, Vorstandsmitglied der Daimler Truck AG
Der Druck wächst
Nutzfahrzeuge bilden das Rückgrat der europäischen Wirtschaft. Sie beliefern Supermärkte, Baustellen und Krankenhäuser, transportieren Menschen zur Arbeit oder bringen Hilfsgüter in Krisengebiete. Über 70 Prozent der alltäglichen Produkte werden auf Lkw transportiert, während Busse das zweitwichtigste Verkehrsmittel nach dem Pkw darstellen. Doch trotz ihrer Bedeutung stehen Nutzfahrzeughersteller vor enormen Herausforderungen: Drastische CO₂-Vorgaben, fehlende Ladeinfrastruktur und internationale Konkurrenz setzen die Branche massiv unter Druck. Ohne eine rasche politische und infrastrukturelle Wende droht Europa den technologischen Vorsprung zu verlieren.
Warum emissionsfreie Nutzfahrzeuge unverzichtbar sind
Der Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft führt unweigerlich über emissionsfreie Nutzfahrzeuge. Hierbei spielen drei Haupttechnologien eine Schlüsselrolle:
Um alle sechs Millionen Lkw in Europa elektrisch zu betreiben, wären jährlich 350 TWh an grüner Energie notwendig – fast 70 % des gesamten deutschen Stromverbrauchs von 2023. Der Ausbau der dafür benötigten Ladeinfrastruktur ist jedoch komplex und zeitintensiv. Gleichzeitig könnte Wasserstoff, der weltweit in sonnenreichen Regionen effizient produziert werden kann, die Batterietechnologie sinnvoll ergänzen. Gerade bei Langstreckentransporten und schwer beladbaren Fahrzeugen zeigt Wasserstoff klare Vorteile.
CO₂-neutrale Kraftstoffe bieten zudem eine Übergangslösung: Sie können sowohl bestehende Diesel-Lkw ersetzen als auch schwer zu elektrifizierende Fahrzeuge wie Baumaschinen oder Agrarfahrzeuge abdecken.
Ein realistischer Blick auf die Infrastruktur
Ein massiver Ausbau der Lade- und Wasserstoffinfrastruktur ist unerlässlich. Schon das gleichzeitige Laden von zehn Langstrecken-Lkw benötigt an Raststätten bis zu zehn Megawatt – eine enorme Herausforderung, die bis zu zehn Jahre Planungszeit beanspruchen könnte. Die Geschwindigkeit dieses Ausbaus entscheidet über den Erfolg der Dekarbonisierungsziele.
Warum Europa den Anschluss verliert
Während europäische Hersteller Milliarden in die Entwicklung emissionsfreier Fahrzeuge investieren, drohen sie den Kampf gegen außereuropäische Konkurrenten zu verlieren. Hersteller aus China und den USA drängen zunehmend auf den Markt, begünstigt durch niedrigere Produktionskosten, staatliche Subventionen und weniger Bürokratie.
Ein besonders sichtbares Beispiel: Elektrische Stadtbusse. In diesem Segment haben chinesische Hersteller bereits deutliche Marktanteile in Europa gewonnen. Wenn europäische Unternehmen nicht durch schnellere Innovationen und politische Unterstützung entlastet werden, könnte sich dieser Trend bald auf den gesamten Nutzfahrzeugmarkt ausweiten.
Drakonische Strafen trotz Fortschritt
Europäische Nutzfahrzeughersteller stehen trotz beachtlicher Erfolge in der Serienproduktion emissionsfreier Modelle unter enormem Druck. Daimler Truck beispielsweise bietet bereits elf batterie-elektrische Modelle sowie wasserstoffbasierte Fahrzeuge an. Doch aufgrund hoher Energiekosten und mangelnder Infrastruktur können diese Fahrzeuge derzeit nicht wirtschaftlich betrieben werden.
Das Problem: Die Politik koppelt CO₂-Vorgaben nicht an den Ausbau der Infrastruktur. Hersteller, die aufgrund externer Faktoren – wie fehlender Ladesäulen oder teurer grüner Energie – ihre CO₂-Ziele nicht erreichen, drohen Strafen, die zehnmal höher sind als im Pkw-Sektor.
Wirtschaftliche Realität der Nutzfahrzeugbranche
Die Gewinnmargen im Lkw- und Busgeschäft sind extrem gering, weshalb die Kunden der Hersteller primär auf die wirtschaftlichste Lösung setzen. Ein emissionsfreies Fahrzeug muss also nicht nur umweltfreundlich, sondern auch bezahlbar und effizient im Betrieb sein. Solange die Kosten für grüne Energie und Ladeinfrastruktur hoch bleiben, fällt die Entscheidung oft auf herkömmliche Diesel-Lkw.
Worauf es jetzt ankommt: Maßnahmen für eine erfolgreiche Transformation
1. CO₂-Ziele an Infrastrukturausbau koppeln
Die Revision der CO₂-Ziele sollte auf das Jahr 2025 vorgezogen werden. Dabei müssen die CO₂-Vorgaben an den Ausbau der Lade- und Wasserstoffinfrastruktur gekoppelt werden. Ohne eine adäquate Infrastruktur können Hersteller ihre Vorgaben schlichtweg nicht erreichen.
Darüber hinaus sollten Fahrzeuge, die mit CO₂-neutralen Kraftstoffen betrieben werden, pauschal auf die CO₂-Zielerreichung angerechnet werden. Dies würde unnötige bürokratische Prozesse vermeiden und die Dekarbonisierung der Bestandsflotte beschleunigen.
2. Infrastruktur zügig ausbauen
Der Mangel an Lade- und Wasserstofftankstellen ist der zentrale Engpass der Dekarbonisierung. Von den rund 15 Milliarden Euro, die der deutsche Staat jährlich durch die Lkw-Maut einnimmt, sollte ein erheblicher Teil in den Infrastrukturausbau fließen. Bisher wird dieses Potenzial jedoch kaum genutzt.
3. Bürokratie abbauen und Innovation fördern
Die Nutzfahrzeugbranche ist mit über 150 EU-Regularien und 30 Verordnungen eine der am stärksten regulierten Industrien. Die Einhaltung von über 20.000 Seiten Regelwerk verzögert Innovationen erheblich. Bis Förderanträge genehmigt werden, hat die Technologie oft schon die nächste Entwicklungsstufe erreicht. Ein vereinfachter Rechtsrahmen könnte die Innovationsgeschwindigkeit drastisch erhöhen.
Fazit: Europa braucht eine umfassende Strategie
Der Erfolg der europäischen Nutzfahrzeugbranche hängt von entschlossenen politischen Entscheidungen ab. Eine Revision der CO₂-Ziele, gekoppelt mit einem schnellen Infrastrukturausbau und der Förderung alternativer Technologien, ist essenziell. Ohne diese Maßnahmen droht Europa, seine Marktführerschaft zu verlieren – und damit nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch den technologischen Vorsprung in einer zentralen Zukunftsbranche.